Die Verwechslung des Fleisches

Leicht amüsiert darüber, wie zufällig hineingeschmissen seine Zähne in dieser Perspektive aussehen, legt er den Pinsel beiseite, ohne dieses Mal die schnell trocknende Gouache zu entfernen. Das Bild wird unvollendet bleiben. Die Abbildung des ungläubigen Jüngers, der nur aufgrund der bequemen Tatsache der eigenen Verfügbarkeit seine Züge trägt, hätte als eines von mehreren Bildern unbestimmter Anzahl unter dem thematisch übergreifenden Titel „Die Verwechslung des Fleisches“ entstehen sollen. Darüber hinaus gibt es nur frühe Vorstudien.
Die leichte Brise der Heiterkeit durchweht sein Gemüt nur einen Augenblick, bevor die gewohnte, düstere Grundstimmung sich wieder ihren Raum zurückerobert. Er lässt es geschehen, weil er zu müde ist, um sich krampfhaft etwas allgemein als positiv bewertetes einzubilden, das er gegen sie in Stellung bringen könnte.
Ochsenstirn tritt zurück und betrachtet die Figur. Er erkennt sich; nicht aber, weil die Darstellung ihm ähnlich ist, sondern weil er die auf ihrer Unfertigkeit beruhende Unbestimmtheit in sich selbst wiederfindet. Die Erkenntnis, dass er nicht mehr zwischen Berechtigung und von Einbildung gespeister Wichtigtuerei unterscheiden kann, erschüttert ihn. Er sieht sich um, betrachtet die unzähligen Bögen und Blöcke, die Farbtuben und Pinsel, das ganze sinnlos gewordene Material. Bitter lächelnd ertappt er sich dabei, wie er zum wiederholten Mal die unzähligen inneren Bilder des letzten Themas zum tausendsten Mal gedanklich gegeneinander abzuwiegen beginnt. Wie aus dem Nichts überwältigt ihn eine nie gekannte Scham. Im besten Licht des Tages empfängt ihn der kleine Platz vor der Werkstatt so unbeteiligt wie eh und je. Es ist niemand da, der ihn in die schattige Gasse zwischen den Häusern treten und Zeuge seines Verschwindens sein könnte.

„Fleischlichkeit ist die gleichermaßen präzise wie umfassende Umschreibung für die Summe der Obsessionen des Christentums. Als wäre dieses Wort dafür geschaffen, steht es für die unterdrückten Lüste, geheimen Wünsche und verdrängte und ausgelebte Leidenschaften der Trinitätsgläubigen…“
K. Ochsenstirn